raum.raum.raum
von Silke Ettling
Seit 17 Jahren engagiert sich der Kunstverein
Schwerte unter Leitung von Ulfried Weingarten darum, zeitgenössische
Kunst in Schwerte zur Diskussion zu stellen. Zunächst ab 1987
in der Kampstraße zu Hause, konnten 1995 die neuen und mit
großem Einsatz der Mitglieder hergerichteten Räume im
Wuckenhof bezogen werden. Dort stehen dem Kunst-verein seither drei
großzügig geschnittene Räume für seine Aktivitäten
zur Verfügung. Mit ihren weißen Wänden und dem grauen
Fußboden entsprechen sie dem heute üblichen Bild eines
neutralen Ausstellungsraumes, der eine möglichst störungsfreie
Betrachtung von Kunst gewährleisten soll. Wie neutral aber
kann ein Raum sein, unauffällig und von daher zu allem passend,
an keine Interessengruppe gebunden, aufgehoben in seiner Wirkung
und in seinem Einfluss auf das darin zur Anschauung Gebrachte? Als
das hier skizzierte Projekt erste Formen annahm, dachte ich zunächst
noch nicht an das Thema Raum. Eher an einzel-ne Konstellationen,
die sich aus der Präsentation der ausgewählten künstlerischen
Positio-nen im Zusammenspiel der drei Räumen entfalten ließen.
Der Titel zur Ausstellung hat sich erst im Verlauf des Projektes
im Dialog mit den drei Künstlerinnen herauskristallisiert.
Entstanden ist ein Gefüge aus drei
spezifischen Angeboten, über die Beschaffenheit und die Bedeutung
von Raum nachzudenken. "schließlich", so ein Text
von Ines Tartler, "liegt eine der äußeren unserer
in der das aufwirft, an dem gezeigt wird. Es verhält sich weil
das selbst sich ohne präsentiert und der durch nichts ablenkt.
Es ist das als, das zum wird, bezogen auf den, an dem gezeigt wird."
Auf grauem Grund über der Eingangstür platziert, wird
der Text vielleicht die Aufmerksamkeit der Besucher zunächst
auf sich lenken, bevor sie anklingeln, um eintreten zu können.
Dort verortet, erinnert das Geschriebene an Inschriften im Gebälk
über den Türen von Fachwerkhäusern. Oft sind es Segenssprüche,
die in das Holz eingra-viert wurden, Angaben zum Bau des Hauses
oder Hinweise auf seine Bewohner. Auch in der Schwerter Altstadt
finden sich solche Beispiele. Als die Künstlerin im Frühjahr
von Berlin nach Schwerte reiste, um den Ort der Ausstellung kennen
zu lernen, ist sie auch in diesem Teil der Stadt umhergegangen.
Was aber möchte diese Aufschrift vermitteln? Für eine
An-kündigung ist sie zu wenig konkret, eher scheint sie etwas
zu beschreiben, das unbestimmt bleibt, eine Behauptung, die sich
entzieht, auf das Innere des Hauses ebenso verweisen kann, wie auf
die Rolle des Kunstvereins als ein Ort des gedanklichen Austausches
im Ge-füge der Stadt - und auf den Besucher, der kommt, um
herein zu schauen.
Vom Flur öffnet sich der Blick in zwei
Richtungen. Durch den Zugang zum mittleren Raum wird die Aufmerksamkeit
auf einen zweiten Raum gelenkt, der in den größeren hineingebaut
wurde. Auf der anderen Seite des Flures behindert eine Schwingtür
die freie Sicht auf den dahinter liegenden Raum. Beim Eintreten
wiederholt sich der Eindruck des Verborgenen. Vorhänge, von
außen vor die Fenster gehängt, machen es dem Besucher
unmöglich, einen Blick nach draußen zu werfen. In die
Atmosphäre des Verborgenen mischt sich ein Gefühl des
Privaten, ein auf das Innere konzentrierter Raum, in dem man sich
möglicherweise un-beobachtet fühlt, bis einer der Vorhänge
von außen angehoben wird oder der nächste Be-sucher durch
die Schwingtür tritt. Zu sehen gibt es weder Objekte noch Bilder.
Zwischen Schwingtür und Vorhängen entfaltet sich stattdessen
eine spannungsreiche Grundkonstella-tion verschiedener Eindrucksmomente,
die den eintretenden Besucher an die Nahtstelle von Innen- und Außenraum
führt.
Nährt die Abgeschlossenheit des Innenraumes
das Bedürfnis, darüber hinaus zu gehen, wecken die Vorhänge
außen die Neugier auf das dahinter Verbor-gene. Im Innern
bleibt der Betrachter auf sich und den Raum konzentriert, zwischen
beiden entwickelt sich eine Grundkonstellation des Betrachtens,
die von den Texten an den Wänden aufgegriffen wird. Sie bieten
Anhaltspunkte, in dieser Richtung weiterzudenken, über die
im Innern entstandene Wahrnehmungssituation wieder hinaus zu gehen.
Zwischen Konzentra-tion und Öffnung wird das Orten von Raum
zu einem fließenden Prozess, in dem sich einzel-ne Wahrnehmungsmomente
zu einem beweglichen Geflecht von Eindrücken verdichten. Die
angebotene Wahrnehmungssituation ist ihrerseits das Ergebnis eines
solchen Prozesses. Nach ersten Gesprächen in Berlin folgte
die Reise nach Schwerte, um den Ort der Ausstel-lung näher
kennen zu lernen. Die beim Umherstreifen durch die Stadt und in
den Räumen des Kunstvereins gewonnenen Eindrücke von der
spezifischen Situation vor Ort bilden das Material, mit dem Ines
Tartler ihren Beitrag zu dieser Ausstellung erarbeitet hat. Hervorge-gangen
aus den Nahtstellen dieser Eindrücke ist eine Raumsituation
entstanden, die die Grenzen zwischen Architektur, künstlerischer
Arbeit, Kunstraum und öffentlichem Raum in der Wahrnehmung
des Betrachters ineinander fließen lässt. "schließlich
liegt eine der äus-seren unserer in der das aufwirft"
- schließlich?
Beim Eintreten in den mittleren Raum eröffnet
sich dem Besucher eine andere Ausgangssi-tuation. Hier sind die
Fenster nicht verhangen, der Blick kann frei zwischen innen und
außen hin- und hergleiten, so dass die Eindrücke ungehindert
ineinander fließen können. Unweiger-lich tritt man dabei
irgendwann auf einen der vielen Klebestreifen auf dem Fußboden.
Folgt man der Struktur aus Streifen, ergibt sich der Grundriss eines
Gebäudes, der exakt in den Grundriss des mittleren Ausstellungsraumes
eingefügt worden ist. Während man aus der Vo-gelperspektive
auf den Plan hinunterschaut, tappt man zwischen den aufgeklebten
Raumein-heiten hin- und her und kann Maß nehmen. Auf der Basis
dieses Grundrisses ist eine der darin enthaltenen Raumeinheiten
in den Ausstellungsraum hineingebaut worden. Bei einer Wandhöhe
von 1,20m bietet der kleinere Raum den Besuchern mit entsprechender
Körper-größe die Möglichkeit, von oben in den
so umbauten Raum hineinzusehen. Dahinter befindet sich ein kleines
Modell, das sich bei eingehenderer Betrachtung als maßstabsgetreuer
Nach-bau des Kunstvereins erweist. Reduziert auf die Grundmaße
der Räume eröffnet der Nach-bau einen modellhaften Einblick
in das Zusammenspiel der drei Ausstellungsräume und auf die
Brückenfunktion des mittleren, verortet zwischen den beiden
anderen.
Zwischen den Po-sitionen von Ines Tartler
und Käthe Wenzel hat Grazyna Wilk eine Installation entworfen,
die von der Bedeutung des Raumes als architektonischer Grundeinheit
ausgeht. Im Blick auf eine möglichst variable Nutzung der Räume
() definiert Architektur den funktionalen Rahmen für das, was
sich später in ihr entfalten soll. Für den Ausstellungsraum
gilt hier nach Maß-gabe des aktuellen Kunstbetriebs noch immer
die Vorgabe, den Raum in seiner Wirkung und in seinem ästhetischen
Einfluss auf die Präsentation von Kunst möglichst zurückzunehmen.
Die Architektur als möglichst verborgener Betrachtungsrahmen
für die Kunst? Im Gefüge dieser Ausstellung kann Architektur
an der Verbindungsstelle zwischen den beiden anderen Positionen
ihren eigenen Raum besetzen. Während sie sich in den beiden
angrenzenden Räumen als Bestandteil eines komplexen Beziehungsgefüges
in die jeweilige Wahrneh-mungssituation einfügt, eröffnet
sie im mittleren Ausstellungsraum eine Konstellation des Betrachtens,
die Architektur als funktionale und ästhetische Ordnung erfahrbar
macht. Die Grenzen zwischen Architektur und Kunst sind auch in diesem
Raum fließend.
Von hier aus gelangt man in den dritten
Ausstellungsraum. Der Sichtachse folgend, fällt der Blick auf
ein aus Knochen genähtes Korsett, das dort auf einem Kleiderbügel
von der Decke hängt. In seiner Aussteifung bildet es auf seine
Weise einen Raum im Raum. Das auf Maß geschneiderte Kleidungsstück
aus Stoff und Knochen provoziert das Bild eines eingeschnür-ten
Körpers, der auf diese Weise in eine ideale Form gebracht werden
soll. In den Gedanken an eingezwängte Organe mischt sich das
Bedürfnis, das Korsett zu berühren, seine Schnüre
zu lösen, um dem imaginären Körper Luft zu schaffen,
vielleicht auch, um ihn zu enthüllen. Die Vorstellung an einen
Körper verbindet sich in irritierender Weise mit dem ausgestellten
Korsett, das von der Decke hängende Objekt wird zu einem tragbaren
Kleidungsstück, in das wir gedanklich schlüpfen können,
um zu erforschen, wie man sich wohl darin fühlen mag. Der Ausstellungsraum
enthält weitere Kostümobjekte. Es gibt einen Haarnisch
und ein Kleid mit Moosbewuchs, ein Hexenhemd, einen zweiten Flug-versuch
und die Fischhaut: ein paar Füße aus Latex zum Überziehen,
die griffbereit oder ab-gelegt an der Wand hängen. All diese
Einzelstücke sind sorgfältig und auf Maß gearbeitet.
Sie präsentieren sich als künstlerische
Objekte und erwecken gleichzeitig den Eindruck trag-bar zu sein,
vorausgesetzt, dass man die richtige Konfektionsgröße
hat. Vielleicht sind es ja auch die abgelegten Kleider einer nicht
greifbaren Person, die dem Betrachter zum gedank-lichen Rollenspiel
angeboten werden? Ergänzt werden sie durch Objekte wie das
in kleinen Glasflaschen aufbewahrte Wimpernpaar einer Diva oder
das eingerahmte Brusttoupé unter Glas. Sie wirken wie die
kostbaren Überreste einer Person, auch wie Ersatzteile, sorgsam
konserviert und ausgestellt, wie es Praxis in medizinhistorischen
Sammlungen ist. Auch sie fordern uns heraus, dass Bild zu ergänzen
und werden damit wie die Kostümobjekte in un-serer Vorstellung
zu Stellvertretern für ein Individuum, einen spezifischen Charakter
oder eine Rolle, in die man schlüpfen kann oder hineingedrängt
wird, die man ablegen oder sich aneignen möchte, und die uns
als Gestalten aus Dichtung, Kunst und Musik seit Jahrhunder-ten
vertraut sind. Im Ausstellungsraum miteinander arrangiert, treten
sie in einen vielschich-tigen Dialog zueinander. Das einzelne Kunstwerk
wird zu einem Teil des Raumes. Wie auf einer imaginären Bühne
werden historisch gewachsene Rollenbilder miteinander arrangiert
und auf ihr jeweiliges Verhältnis von Kleidung, Körpergefühl
und Selbstbild befragt. Dem Be-trachter bieten sie Variationen von
Identität, die gedanklich durchprobiert werden können.
Der Ausstellungsraum wird damit selbst zu
einer Variation. Er ist zurückgenommener Be-trachtungsrahmen,
imaginäre Bühne und Garderobe in einem - ein Angebot,
über die Wand-lungsmöglichkeiten von Identität und
Rollenbildern nachzudenken. Raum wird hier in vielfäl-tiger
Weise zu einem gedanklichen Bezugspunkt für die Arbeiten. Als
Ausstellungsraum er-wachsen aus einer eigenen Tradition des Sammelns
und Präsentierens bietet er die Möglich-keit, sich auf
das künstlerische Einzelwerk bzw. die in ihm geschaffene Wahrnehmungssitua-tion
zu konzentrieren, die ihrerseits den Blick auf Bezugspunkte lenkt,
die über den künstlich geschaffenen Betrachtungsrahmen
hinausweisen. Bezugnehmend auf historische Rollenbil-der und Traditionen
sind sie an verschiedenen Orten denkbar. Der Kirchenraum übernimmt
hier eine besondere Schlüsselfunktion, da er die jahrhundertealte
Prägung der europäischen Kultur und Identität durch
die christliche Glaubenslehre verkörpert. Das dort während
der Ausstellung gezeigte Apokryphen-Buch verweist hierauf, indem
es den Blick auf das Verbor-gene lenkt, das vormals nicht in den
Kanon der Heiligen Schrift aufgenommen wurde. Erwei-tert wird der
Bezug zum historischen Ort durch die Einbeziehung der Schaufenster
eines Mo-degeschäftes und einer Buchhandlung, in deren Auslagen
während der Ausstellung weitere Arbeiten zu sehen sein werden.
"Leg Deine Kleider ab, leg Deinen Körper ab. Häng
sie hin-ter die Tür. Freiheit für eine Nacht. Hier ist,
wo die Geschichte beginnt - ein neuer Anfang, immer ein anderes
Ende." architektonischer raum. ausstellungsraum. öffentlicher
raum. historischer raum - Raum, so ein Gedanke dieser Ausstellung,
entwickelt sich an der Nahtstelle solcher Bezüge. Die abge-steckten
Grenzen sind fließend und in unterschiedlichsten Konstellationen
denkbar. Raum als eine in ihren Koordinaten nicht fest begrenzte
Ausdehnung, ein für jmdn., etw. zur Verfü-gung stehender
Platz = ein Freiraum?
Aus: raum.raum.raum. Katalog mit CD zur
gleichnamigen Ausstellung im Schwerter Kunstverein 2003. Mit Arbeiten
von Ines Tartler, Grazyna Wilk und Käthe Wenzel, kuratiert
von Silke Ettling. Berlin 2003. S. 3-10.
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