gerüste
Katalogtext zur gleichnamigen Ausstellung im Schwerter Kunstverein
von Silke Ettling
gerüste, die: aus Stangen oder Metallrohren,
Brettern o.Ä. errichtete Konstruktionen bes. für Bau-,
Reparatur- und Montagearbeiten; grundlegende Gedanken; Grundplan:
Linien + Knotenpunkte. Spannungsaufbau. Eine Assoziation. Erstes
Tasten, eine Berührung, der Kontakt. Die Verbindung ist vielleicht
fragil, doch hergestellt. Die Annäherung erfolgt von Innen
heraus. Nur: Wo genau liegt Innen?
innen (Adv.): an der, auf der Innenseite,
im Inneren, zum Inneren hin, einwärts; vom Inneren her, von
der Innenseite aus, (veraltet) drinnen: assoziiert draußen
+ innen = zwischen außen? Line Wasner, Käthe Wenzel und
Christof Zwiener folgen unterschiedlichen Wegen, über Form-
und Formprozesse nachzudenken. Mit Gips + Faden, Wachs + Schnüren,
Kamera + schwarzer Tusche lenken sie den Blick auf die Strukturmomente
in einer Verbindung. Ein Gefüge entsteht. Zwischen.
Verbindung, die: das Verbinden, sich verbinden,
Verbundensein; Zusammenhalt, Zusammenhang: Im Zusammenspiel von
Anhaltspunkten. Der Beginn einer Vorstellung. Der Blick konzentriert
sich. Auf die Bewegungen eines Körpers. Zwischen den Fixpunkten
eines Raumes. Auf die Ausdehnung einer verborgenen Form. Einer Erinnerung.
Auf Abmessungen einer zugrunde gelegten Norm. Ins Detail gehend.
Zwischen dem Ertasten und Abmessen einer Spur füllt sich der
Blick. Relationen werden sichtbar, ihre Anhaltspunkte konkreter.
Nehmen Form an. Werden plastisch. Raumfüllend. Andere Spuren
verlieren sich wieder, werden aufgegeben. Nicht fortgesetzt. Verbleiben
gegenstandslos. Beim Erforschen der verschiedenen Wege, solche Strukturmomente
greifbar zu machen, fixieren die drei KünstlerInnen das diffizile
Zusammenspiel von konkreter Berührung und Leerstelle in jeweils
eigener Weise. Punktgenau. Eine Balance zwischen Vorstellung und
Assoziation entsteht.
Punkt, der: kleiner (kreisrunder) Fleck,
Tupfen; die Elfmetermarke; das Entscheidende, Ausschlaggebende;
die Zutat, die einer Sache noch die letzte Abrundung gibt; Zeitpunkt,
Stadium innerhalb einer Entwicklung, eines Prozesses, o. dgl.; Gliederungsabsatz,
Abschnitt; kleinste Einheit des typographischen Maßsystems
für Schriftgrößen: Ein einzelner Punkt, ein Anhaltspunkt,
ein Ausgangspunkt. In ihrer Beschäftigung mit Form und Formprozessen
setzen die drei KünstlerInnen inhaltlich verschiedene Akzente.
Für Christof Zwiener ist die Beschäftigung mit biographischen
Notizen und Erinnerungsmomenten ein wichtiger Bezugspunkt für
seine Arbeit. Die Gerüste, die er baut, um das Erinnerte zu
tragen, sind auf ein Minimum an Informationen reduziert und ohne
Titel nicht gleich zugänglich. Es braucht Zeit, bis man sich
eingesehen und seine Anknüpfungspunkte gefunden hat. Der Prozess
zwischen Vorstellung und Assoziation bleibt schwebend. Wie ein Erinnerungsbild.
Ein wahrgenommener Eindruck. Das Motiv kaum sichtbarer Wahrnehmungsmomente
beschäftigt den Künstler auch in seinen Videos. Beim Aufzeichnen
kurzer Bewegungssequenzen bieten Reflektorpunkte Orientierung, bevor
der Lichtreflex wieder verschwindet und eine optische Leerstelle
hinterlässt. Bis zur nächsten Reflexion.
Leerstelle, die: (in der Dependenzgrammatik)
aufgrund der Valenz des Verbs durch eine Ergänzung zu besetzende
Stelle im Satz - Valenz, die: Fähigkeit eines Wortes, ein anderes
semantisch-syntaktisch an sich zu binden; besondere Fähigkeit
eines Verbs, zur Bildung eines vollständigen Satzes eine bestimmte
Zahl von Ergänzungen zu fordern: Ergänzung = Stelle die
noch nicht besetzt ist. Etwas fehlt. Line Wasner wendet sich dem
Alltäglichen zu. Hochspannungsleitungen, Takelagen, Möbelkatalogen
und Klappstühlen. Straßenszenen. So der gegenwärtige
Stand ihrer Untersuchungen. Die Künstlerin arbeitet dabei mit
Stift und Pinsel. Vornehmlich mit Kalligraphentusche. In Schwarz
auf Weiß. Auf Papier. Auf Leinwand. Zunächst wird das
Motiv fixiert. Herauspräpariert aus einem größeren
Zusammenhang. Kontextbezüge werden aufgegeben. Danach wendet
sie sich dem Detail zu. Seismographisch genau werden die Verhältnismäßigkeiten
ausgelotet. Das Zusammenspiel von tragenden Strukturen, von Licht
und Schatten erforscht. Veränderungen in der Bewegung mit Stift
und Pinsel nachgegangen. In Relation gebracht. Einzelne Punkte und
Linien verdichten sich zu Pinselstrichen, werden flächig, wieder
aufgebrochen. Schließlich angehalten zwischen Form und Formauflösung.
Der Eindruck von Bewegung bleibt. Auf der Fläche wie in den
Bildraum hinein. Zwischen Gerüst und Leerstelle. Abstraktionen.
Balancieren.
abstrakt,(adj.): die wesentlichen, gesetzmäßigen
o.ä. Züge aus etw. Konkretem, sinnlich Wahrnehmbarem ableitend:
Aus dem Stadium innerhalb einer Entwicklung. Eines Abschnitts. Von
etwas Ausschlaggebendem. Einem Zusammenhang. Formprägend. Wie
ein Stützkorsett. Käthe Wenzel durchforscht kulturgeschichtliche
Strukturen. Verbindungen von biographischen Notizen, Erinnerungsmomenten
und Alltäglichem. Historischen Entwicklungslinien und tradierten
Normvorgaben. Die Vorgehensweise erinnert an die Arbeit eines Präparators.
Und an die Fertigung von Konfektionswaren. Beim Erfassen individueller
Lebensformen und Ideenbilder durchmisst die Künstlerin das
Innenleben kulturgeprägter Haltungen. Das Maßwerk eines
Baukörpers, die Zwischentöne einer Niederschrift. Einer
Deklaration. Eines Bekleidungsstücks. Das menschliche Maß
fungiert dabei wie eine Kompassnadel. In der Bewegung. Zwischen
den Prozessen. Ein Entwicklungsschritt.
Kompassnadel, die: zum magnetischen Nordpol
hin sich einpendelnder Zeiger des Kompasses; Kompass, der: Gerät
zur Bestimmung der Himmelsrichtung (mit Hilfe eines Magneten); compassare
= nach dem Kompass marschieren; ringsum abschreiten. Abmessen +
Ertasten. Von Innen her; zwischen außen. Mit ihren Analysen
von Form und Formprozessen bieten die drei KünstlerInnen Anhaltspunkte;
- gerüste - für ihre Betrachter, den so skizzierten Fäden
nachzugehen. In verschiedene Richtung.
Aus: gerüste. Katalog mit CD zur gleichnamigen
Ausstellung im Schwerter Kunstverein 2003. Mit Arbeiten von Line
Wasner, Käthe Wenzel und Christof Zwiener, kuratiert von Silke
Ettling. Berlin 2004. S. 3-10.
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